+@cindex Polyphonie
+@cindex Ebenen
+@cindex mehrere Stimmen
+@cindex Stimmen, mehrere
+@cindex Voice context
+@cindex context, Voice
+@cindex Kontext, Stimme
+@cindex Stimmenkontext
+@cindex gleichzeitige Noten
+@cindex Stimmen versus Akkorde
+@cindex Akkorde versus Stimmen
+@cindex Noten gleichzeitig
+
+Die grundegendsten und innersten Ebenen ein einer LilyPond-Partitur
+werden @qq{Voice context} (Stimmenkontext) oder auch nur @qq{Voice}
+(Stimme) genannt. Stimmen werden in anderen Notationsprogrammen
+manchmal auch als @qq{layer} (Ebene) bezeichnet.
+
+Tatsächlich ist die Stimmenebene die einzige, die wirklich Noten
+enthalten kann. Wenn kein Stimmenkontext explizit erstellt wird,
+wird er automatisch erstellt, wie am Anfang dieses Kapitels
+gezeigt. Manche Instrumente wie etwa die Oboe können nur eine
+Note gleichzeitig spielen. Noten für solche Instrumente sind
+monophon und brauchen nur eine einzige Stimme. Instrumente, die
+mehrere Noten gleichzeitig spielen können, wie das Klavier, brauchen
+dagegeben oft mehrere Stimmen, um die verschiedenen gleichzeitig
+erklingenden Noten mit oft unterschiedlichen Rhythmen darstellen
+zu können.
+
+Eine einzelne Stimme kann natürlich auch vielen Noten in einem Akkord
+enhalten -- wann also braucht man dann mehrere Stimmen? Schauen wir
+uns zuerst dieses Beispiel mit vier Akkorden an:
+
+@lilypond[quote,verbatim,fragment,ragged-right,relative=1]
+\key g \major
+<d g>4 <d fis> <d a'> <d g>
+@end lilypond
+
+Das kann ausgedrückt werden, indem man die einfachen spitzen Klammern
+@code{< ... >} benützt, um Akkorde anzuzeigen. Hierfür braucht man
+nur eine Stimme. Aber gesetzt der Fall das Fis sollte eigentlich
+eine Achtelnote sein, gefolgt von einer Achtelnote G (als Durchgangsnote
+hin zum A)? Hier haben wir also zwei Noten, die zur gleichen Zeit
+beginnen, aber unterschiedliche Dauern haben: die Viertelnote D und die
+Achtelnote Fis. Wie können sie notiert werden? Als Akkord kann man sie
+nicht schreiben, weil alle Noten in einem Akkord die gleiche Länge besitzen
+müssen. Sie können auch nicht als aufeinanderfolgende Noten geschrieben
+werden, denn sie beginnen ja zur selben Zeit. In diesem Fall also brauchen
+wir zwei Stimmen.
+
+Wie aber wird das in der LilyPond-Syntax ausgedrückt?
+
+@funindex << \\ >>
+@funindex \\
+
+Die einfachste Art, Fragmente mit mehr als einer Stimme auf einem System
+zu notieren, ist, die Stimmen nacheinander (jeweils mit den Klammern
+@code{@{ ... @}}) zu schreiben und dann mit den spitzen Klammern
+(@code{<<...>>}) simultan zu kombinieren. Die beiden Fragmente müssen
+zusätzlich noch mit zwei Backslash-Zeichen (@code{\\}) voneinander
+getrennt werden, damit sie als zwei unterschiedliche Stimmen erkannt
+werden. Ohne diese Trenner würden sie als eine einzige Stimme notiert
+werden. Diese Technik ist besonders dann angebracht, wenn es sich bei
+den Noten um hauptsächlich homophone Musik handelt, in der hier und da
+polyphone Stellen vorkommen.
+
+So sieht es aus, wenn die Akkorde in zwei Stimmen aufgeteilt werden
+und zur Durchgangsnote noch ein Bogen hinzugefügt wird:
+
+@lilypond[quote,verbatim,fragment,ragged-right,relative=2]
+\key g \major
+% Voice "1" Voice "2"
+<< { g4 fis8( g) a4 g } \\ { d4 d d d } >> |
+@end lilypond
+
+Beachte, dass die Hälse der zweiten Stimme nun nach unten zeigen.
+
+Hier ein anderes Beispiel:
+
+@lilypond[quote,verbatim,fragment,ragged-right,relative=2]
+\key d \minor
+% Voice "1" Voice "2"
+<< { r4 g g4. a8 } \\ { d,2 d4 g } >> |
+<< { bes4 bes c bes } \\ { g4 g g8( a) g4 } >> |
+<< { a2. r4 } \\ { fis2. s4 } >> |
+@end lilypond
+
+Es ist nicht notwendig, für jeden Takt eine eigene
+@code{<< \\ >>}-Konstruktion zu benutzen. Bei Musik mit nur wenigen
+Noten pro Takt kann es die Quelldatei besser lesbar machen, aber
+wenn in einem Takt viele Noten vorkommen, kann man die gesamten Stimmen
+separat schreiben, wie hier:
+
+@lilypond[quote,verbatim,fragment,ragged-right,relative=2]
+\key d \minor
+<< {
+ % Voice "1"
+ r4 g g4. a8 |
+ bes4 bes c bes |
+ a2. r4 |
+} \\ {
+ % Voice "2"
+ d,2 d4 g |
+ g4 g g8( a) g4 |
+ fis2. s4 |
+} >>
+@end lilypond
+
+Dieses Beispiel hat nur zwei Stimmen, aber die gleiche Konstruktion kann
+angewendet werden, wenn man drei oder mehr Stimmen hat, indem man weitere
+Backslash-Trenner hinzufügt.
+
+Die Stimmenkontexte tragen die Namen @code{"1"}, @code{"2"} usw. In jedem
+dieser Kontexte wird die vertikale Ausrichtung von Hälsen, Bögen, Dynamik-Zeichen
+usw. entsprechend ausgerichtet.
+
+@lilypond[quote,verbatim,fragment]
+\new Staff \relative c' {
+ % Main voice
+ c16 d e f
+ % Voice "1" Voice "2" Voice "3"
+ << { g4 f e } \\ { r8 e4 d c8 ~ } >> |
+ << { d2 e2 } \\ { c8 b16 a b8 g ~ g2 } \\ { s4 b4 c2 } >> |
+}
+@end lilypond
+
+Diese Stimmen sind alle getrennt von der Hauptstimme, die die Noten
+außerhalb der @code{<< .. >>}-Konstruktion beinhaltet. Lassen wir es
+uns die @emph{simultane Konstruktion} nennen. Bindebögen und Legatobögen
+können nur Noten in der selben Stimmen miteinander verbinden und können
+also somit nicht aus der simultanen Konstruktion hinausreichen. Umgekehrt
+gilt, dass parallele Stimmen aus eigenen simultanen Konstruktionen auf
+dem gleichen Notensystem die gleiche Stimme sind. Auch andere, mit dem
+Stimmenkontext verknüpfte Eigenschaften erstrecken sich auf alle
+simultanen Konstrukte. Hier das gleiche Beispiel, aber mit unterschiedlichen Farben für die Notenköpfe der unterschiedlichen Stimmen.
+Beachten Sie, dass Änderungen in einer Stimme sich nicht auf die anderen
+Stimmen erstrecken, aber sie sind weiterhin in der selben Stimme vorhanden,
+auch noch später im Stück. Beachten Sie auch, dass übergebundene Noten
+über die gleiche Stimme in zwei Konstrukten verteilt werden können, wie
+hier an der blauen Dreieckstimme gezeigt.
+
+@lilypond[quote,verbatim]
+\new Staff \relative c' {
+ % Main voice
+ c16 d e f
+ << % Bar 1
+ {
+ \voiceOneStyle
+ g4 f e
+ }
+ \\
+ {
+ \voiceTwoStyle
+ r8 e4 d c8 ~
+ }
+ >>
+ << % Bar 2
+ % Voice 1 continues
+ { d2 e2 }
+ \\
+ % Voice 2 continues
+ { c8 b16 a b8 g ~ g2 }
+ \\
+ {
+ \voiceThreeStyle
+ s4 b4 c2
+ }
+ >>
+}
+@end lilypond
+
+@funindex \voiceOneStyle
+@funindex \voiceTwoStyle
+@funindex \voiceThreeStyle
+@funindex \voiceFourStyle
+@funindex \voiceNeutralStyle
+
+Die Befehle @code{\voiceXXXStyle} sind vor allem dazu da, um in
+pädagogischen Dokumenten wie diesem hier angewandt zu werden.
+Sie verändern die Farbe des Notenkopfes, des Halses und des Balkens, und
+zusätzlich die Form des Notenkopfes, damit die einzelnen Stimmen
+einfach auseinander gehalten werden können. Die erste Stimme ist als
+rote Raute definiert, die zweite Stimme als blaue Dreiecke, die dritte
+Stimme als grüne Kreise mit Kreuz und die vierte Stimme (die hier nicht
+benutzt wird) hat dunkelrote Kreuze. @code{\voiceNeutralStyle} (hier auch
+nicht benutzt) macht diese Änderungen rückgängig. Später soll gezeigt
+werden, wie Befehle wie diese vom Benutzer selber erstellt werden
+können. Siehe auch @ref{Visibility and color of objects} und
+@ref{Using variables for tweaks}.
+
+@cindex Polyphonie und relativer Notationsmodus
+@cindex relativer Notationsmodus und Polyphonie
+
+Polyphonie ändert nicht die Verhältnisse der Noten innerhalb eines
+@code{\relative @{ @}}-Blocks. Jede Note wird weiterhin relativ zu
+der vorherigen Note errechnet, oder relativ zur ersten Note des vorigen
+Akkords. So ist etwa hier
+
+@example
+\relative c' @{ NoteA << < NoteB NoteC > \\ NoteD >> NoteE @}
+@end example
+
+@noindent
+@code{NoteB} bezüglich @code{NoteA} @*
+@code{NoteC} bezüglich @code{NoteB}, nicht @code{noteA}; @*
+@code{NoteD} bezüglich @code{NoteB}, nicht @code{NoteA} oder
+@code{NoteC}; @*
+@code{NoteE} bezüglich @code{NoteD}, nicht @code{NoteA} errechnet.
+
+Eine andere Möglichkeit ist, den @code{\relative}-Befehl vor jede
+Stimme zu stellen. Das bietet sich an, wenn die Stimmen weit voneinander
+entfernt sind.
+
+@example
+\relative c' @{ NoteA ... @}
+<<
+ \relative c'' @{ < NoteB NoteC > ... @}
+\\
+ \relative g' @{ NoteD ... @}
+>>
+\relative c' @{ NoteE ... @}
+@end example
+
+Zum Schluss wollen wir die Stimmen in einem etwas komplizierteren Stück
+analysieren. Hier die Noten der ersten zwei Takte von Chopins
+@notation{Deux Nocturnes}, Op. 32. Dieses Beispiel soll später in diesem
+und dem nächsten Kapitel benutzt werden, um verschiedene Techniken,
+Notation zu erstellen, zu demonstrieren. Ignorieren Sie deshalb an diesem
+Punkt alles in folgendem Code, das Ihnen seltsam vorkommt, und konzentrieren
+Sie sich auf die Noten und die Stimmen. Die komplizierten Dinge werden
+in späteren Abschnitten erklärt werden.
+
+@c The following should appear as music without code
+@lilypond[quote,ragged-right]
+\new Staff \relative c'' {
+ \key aes \major
+ << % Voice one
+ { c2 aes4. bes8 }
+ \\ % Voice two
+ { aes2 f4 fes }
+ \\ % No voice three
+ \\ % Voice four
+ {
+ % Ignore these for now - they are explained in Ch 4
+ \once \override NoteColumn #'force-hshift = #0
+ <ees c>2
+ \once \override NoteColumn #'force-hshift = #0.5
+ des2
+ }
+ >> |
+ <c ees aes c>1 |
+}
+@end lilypond
+
+Die Richtung der Hälse wird oft benutzt, um anzuzeigen, dass zwei
+gleichzeitige Melodien sich fortsetzen. Hier zeigen die Hälse aller
+oberen Noten nach oben und die Hälse aller unteren Noten nach unten.
+Das ist der erste Anhaltspunkt, dass mehr als eine Stimme benötigt
+wird.
+
+Aber die wirkliche Notwendigkeit für mehrere Stimmen tritt erst
+dann auf, wenn unterschiedliche Noten gleichzeitig erklingen, aber
+unterschiedliche Dauern besitzen. Schauen Sie sich die Noten
+auf dem dritten Schlag im ersten Takt an. Das As ist eine punktierte
+Viertel, das F ist eine Viertel und das Des eine Halbe. Sie können
+nicht als Akkord geschrieben werden, denn alle Noten in einem Akkord
+besitzen die gleiche Dauer. Sie können aber auch nicht nacheinander
+geschrieben werden, denn sie beginnen auf der gleichen Taktzeit. Dieser
+Taktabschnitt benötigt drei Stimmen, und normalerweise schreibt man
+drei Stimmen für den ganzen Takt, wie im Beispiel unten zu sehen ist;
+hier sind unterschiedliche Köpfe und Farben für die verschiedenen Stimmen
+eingesetzt. Nocheinmal: der Quellcode für dieses Beispiel wird später
+erklärt werden, deshalb ignorieren Sie alles, was Sie hier nicht
+verstehen können.
+
+@c The following should appear as music without code
+@c The three voice styles should be defined in -init
+@lilypond[quote,ragged-right]
+\new Staff \relative c'' {
+ \key aes \major
+ <<
+ { % Voice one
+ \voiceOneStyle
+ c2 aes4. bes8
+ }
+ \\ % Voice two
+ { \voiceTwoStyle
+ aes2 f4 fes
+ }
+ \\ % No Voice three (we want stems down)
+ \\ % Voice four
+ { \voiceThreeStyle
+ % Ignore these for now - they are explained in Ch 4
+ \once \override NoteColumn #'force-hshift = #0
+ <ees c>2
+ \once \override NoteColumn #'force-hshift = #0.5
+ des2
+ }
+ >> |
+ <c ees aes c>1 |
+}
+@end lilypond
+
+Versuchen wir also, diese Musik selber zu notieren. Wie wir sehen
+werden, beinhaltet das einige Schwierigkeiten. Fangen wir an, wie
+wir es gelernt haben, indem wir mit der @code{<< \\ >>}-Konstruktion
+die drei Stimmen des ersten Taktes notieren:
+
+@lilypond[quote,verbatim,fragment,ragged-right]
+\new Staff \relative c'' {
+ \key aes \major
+ <<
+ { c2 aes4. bes8 } \\ { aes2 f4 fes } \\ { <ees c>2 des2 }
+ >>
+ <c ees aes c>1
+}
+@end lilypond
+
+@cindex Hals nach unten
+@cindex Hals nach oben
+@cindex Notenhals, Richtung
+@cindex Richtung des Notenhalses
+@cindex Notenhalsrichtung
+@cindex Stimmen und Notenhalsrichtung
+@cindex Notenhalsrichtung in Stimmen
+
+Die Richtung des Notenhalses wird automatisch zugewiesen; die ungeraden
+Stimmen tragen Hälse nach oben, die gerade Hälse nach unten. Die Hälse
+für die Stimmen 1 und 2 stimmen, aber die Hälse in der dritten Stimme
+sollen in diesem Beispiel eigentlich nach unten zeigen. Wir können das
+korrigieren, indem wir die dritte Stimme einfach auslassen und die
+Noten in die vierte Stimme verschieben:
+
+@c KEEP LY
+@lilypond[quote,verbatim,fragment,ragged-right]
+\new Staff \relative c'' {
+ \key aes \major
+ << % erste Stimme
+ { c2 aes4. bes8 }
+ \\ % zweite Stimme
+ { aes2 f4 fes }
+ \\ % Stimme drei auslassen
+ \\ % vierte Stimme
+ { <ees c>2 des2 }
+ >> |
+ <c ees aes c>1 |
+}
+@end lilypond
+
+@noindent
+Wie zu sehen ist, ändert das die Richtung der Hälse, aber zeigt ein
+anderes Problem auf, auf das man manchmal bei mehreren Stimmen stößt:
+Die Hälse einer Stimme können mit den Hälsen anderer Stimmen kollidieren.
+LilyPond erlaubt Noten in verschiedenen Stimmen sich auf der gleichen
+vertikalen Position zu befinden, wenn die Hälse in entgegengesetzte
+Richtungen zeigen, und positioniert die dritte und vierte Stimme dann
+so, dass Zusammenstöße möglichst vermieden werden. Das funktioniert
+gewöhnlich recht gut, aber in diesem Beispiel sind die Noten der untersten
+Stimme eindeutig standardmäßig schlecht positioniert. LilyPond bietet
+verschiedene Möglichkeiten, die horizontale Position von Noten
+anzupassen. Wir sind aber noch nicht so weit, dass wir diese Funktionen
+anwenden könnten. Darum heben wir uns das Problem für einen späteren Abschnitt auf; siehe @code{force-hshift}-Eigenschaft in @ref{Fixing
+overlapping notation}.
+
+
+@seealso
+Notationsreferenz: @ruser{Multiple voices}.
+